Trauer und Corona, Trauerfacette Wirklichkeit
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„Wir nehmen die Zahlen zwar zur Kenntnis, aber wir wollen uns aus Hilflosigkeit vielleicht gar nicht oder nicht zu sehr damit beschäftigen.“ Andreas Aebi, Vorsitzender der Schweizer Nationalversammlung am 09.12.2020
„Interessant finde ich den ganz anderen Umgang mit Corona und den Trauernden in Deutschland. Da scheint es nur Stille zu geben. Die Toten bekommen gar keinen Raum, ihre Geschichten werden nicht oder kaum gehört. Das ist in UK komplett anders. Da sieht man sie als Teil der Gesellschaftlichen Geschichte, sie werden portraitiert, die Hinterbliebenen erzählen von der komplizierten Trauer. Auch diejenigen, die überleben bekommen viel Raum – long Covid ist in aller Munde. Sicher hat es mit den geringen Fallzahlen zu tun. Vielleicht auch mit einem anderen Umgang mit Tod.“ (Barbara Munske-Creswell, eine alte Freundin, die jahrzehntelang in England gelebt und dort u.a. als „Grief Counsellor“ gearbeitet hat, am 08.12.2020)
Niedrige Fallzahlen sind ein Erklärungsansatz. Hilflosigkeit ein anderer. Zwei weitere psychologisch-historische Interpretationsmöglichkeiten für „typisch deutschen“ Umgang mit Tod und Trauer sind mir eingefallen. Am Ende dieses Beitrags verknüpfe ich sie mit meinen Erkenntnissen über Trauerprozesse.
Psychoanalyse: Die Unfähigkeit zu trauern
„Die Unfähigkeit zu trauern“ hieß 1967 das erste Buch zu gesellschaftlicher Trauer in Deutschland, geschrieben von Alexander und Margarete Mitscherlich. Aus psychoanalytischer Sicht beschäftigten sie sich mit den Reaktionen von AnhängerInnen des Nationalsozialismus auf das Ende dieses Regimes. Trauer, Rückblick und die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Handeln in einem totalitären Staat wurden unterdrückt und durch intensive Aktivität unter den Stichworten „Wiederaufbau“ und „Wirtschaftswunder“ ersetzt. Themen wie Schuld oder Mitschuld an Völkermord und Massevernichtung wurden ebenso vermieden wie eine gefühlte und ausgedrückte Trauer um die Millionen Toten, die der zweite Weltkrieg verursacht hatte. Die Mitscherlichs deuteten dies als Abwehr des Selbstwertverlusts, der entstanden war durch die Niederlage der nationalsozialistischen Ideologie und den Tod der Person Adolf Hitler, die gemeinsam ihrem Leben Ziele und eine Bedeutung gegeben hatten. Daraus wurde in den entstehenden Staats- und Familientraditionen eine generelle Abwehr von Traurigkeit, selbstkritischer Reflektion und Gedenken.
Psychotraumatologie:Traumatisierte Kriegskinder
Ein später entstandenes Deutungsmuster wies auf die möglichen Traumatisierungen ganzer Generationen von „Kriegskindern“ und „Kriegsenkeln“ hin. Die Journalistin Sabine Bode veröffentlichte seit 2004 mehrere Bücher dazu. Sie bezieht sich auf Erkenntnisse der Psychotraumatologie und überträgt sie auf die Generation unserer Eltern und Großeltern: Erlittene Traumatisierungen durch das Miterleben von Bombenangriffen und sexualisierter Gewalt, in Kriegsgefangenschaft und Lagerhaft führen zur Abspaltung von Emotionen. Dieser ursprüngliche Selbstschutzmechanismus bleibt weit über die ursprüngliche Situation hinaus bestehen und führt dazu, dass die betroffenen Menschen z.B. als junge Eltern nur eingeschränkt auf die Gefühle und Bedürfnisse ihrer heranwachsenden Kinder reagieren können. Wenn diese Kinder erwachsen sind, zeigen auch sie eine Tendenz, Gefühle zu unterdrücken, und Schwäche abzulehnen. Das tragen Sie in die Erziehung ihrer Kinder, die wiederum eine Tendenz zur Abwertung und Abspaltung von tiefen Gefühlen und vor allem von Trauer entwickeln.
Was ist wichtiger als ehrendes Gedenken?
Zwei Interpretationsansätze für ein und dasselbe Verhalten: in Deutschland ist Trauer scheinbar noch mehr ein Tabu als in anderen europäischen Ländern. In der aktuellen Situation zeigt sich das im Umgang mit denen, die an und mit Covid 19 sterben; denen, die an den langfristigen Folgen einer Covid-Erkrankung leiden und denen, die um Verstorbene trauern. Das Sterben an Covid 19 und die Trauer der Hinterbliebenen wird nur als Randphänomen wahrgenommen oder sogar abgeleugnet. Während es z.B. in Spanien bereits im Juli 2020 eine nationale Gedenkfeier für die an Covid 19 Verstorbenen (28.000 waren es zu diesem Zeitpunkt bereits) gab, wurde ein entsprechender Vorschlag von Bundespräsident Steinmeier Anfang September 2020 erst einmal abgewunken. Es sei zu früh. Anderes sei jetzt wichtiger.
Was ist jetzt und offensichtlich immer wieder (nicht nur) in Deutschland wichtiger als das Gedenken, das Innehalten, das Ehren der Verstorbenen und das Unterstützen der Trauernden?
Überleben hat Vorrang
Im Trauerkaleidoskop gibt es die Facette „Überleben“ in der Farbe einer Rettungsweste. „Überleben hat Vorrang“ heißt der Satz, den ich dazu geprägt habe, und der einen Mechanismus beschreibt, der in Trauerprozessen überall auf der Welt zu beobachten. Überleben angesichts eines einschneidenden Verlusts heißt Durchhalten, Weitermachen und Pragmatische Lösungen für den veränderten Alltag finden. Das ist wichtig und lebensförderlich. Das Überleben in einer Krisensituation nutzt dazu jedoch auch Mittel, die langfristig negative Folgen haben können: Verdrängen, Ausblenden, Abspalten. Das Wissen um die Vergangenheit und Bedürfnisse des ehrenden Andenkens bleiben dabei auf der Strecke. Es gibt immer etwas Wichtigeres zu tun als das Erinnern, das Betrauern, das Zuhören und Mitfühlen. In Deutschland scheint das eine besondere Bedeutung zu haben. Auf der individuellen aber auch der kollektiven Ebene ist der Blick nach vorn Programm. Dazu braucht es keine Ge- und Verbote als Erlass oder Verordnung. Die Muster sitzen offensichtlich in unseren Köpfen und Herzen.
Trauer hat keine Lobby
Das gilt sicht- und hörbar in der Medienlandschaft des Jahres 2020 für JournalistInnen und Medien, die nur vereinzelt über Menschen berichten, die an Covid gestorben sind oder wie deren Angehörige mit dem schnellen Krankheitsverlauf, dem eingeschränkten Abschied, den Beerdigungsfeiern mit Kontakteinschränkungen und dem eingeschränkten Zugang zu Unterstützungsangeboten umgehen. Es geht auch um die ExpertInnen in den Bereichen Sterben, Tod und Trauer. Der DHPV, überregionale Selbsthilfevereine für Trauernde wie der VEID e.V. oder AGUS e.V., der Bundesverband Trauerbegleitung e.V., Wohlfahrtsverbände, Kirchen, PsychologInnen, Hausärztinnen – niemand hat sich bisher zum Anwalt der Covid-Betroffenen gemacht. Es gibt meines Wissens keinen Zusammenschluss, keine öffentliche Erklärung, keine Richtlinie, keine Task-Force. Jede Institution kämpft für sich mit der Re-Organisation in Zeiten von Home-Office, Kontakteinschränkungen und finanziellen Engpässen. Überleben hat Vorrang.
Überleben geht auch anders
Aus der individuellen Trauerbegleitung habe ich gelernt – wenn Überleben Vorrang hat und dabei Gefühle und Gedenken unterdrückt, nutzen Apelle wenig. Druck von Außen erhöht nur das Bedrohungsgefühl und unterstützt damit indirekt die Notwendigkeit, Gefühle und Erinnerungen an den Rand des Bewusstseins zu drängen. Wer sich bereits bedroht fühlt braucht Angebote, die ein Bewusstsein von innerer und äußerer Absicherung herstellen. Nur ein Erleben, dass „Überleben“ auch anders geht, als mit Abspaltung, ermöglicht einen neuen Umgang mit den Inhalten, die bisher verdrängt wurden.
In der individuellen Trauerbegleitung kann ich stärkende Körperübungen und Imaginationen anbieten, ich kann Rituale in einem haltgebenden Rahmen anregen und mit meiner Anwesenheit bzw. der tragenden Gemeinschaft einer Trauergruppe Halt vermitteln. Wie kann das auf einer kollektiven, einer gesellschaftlichen Ebene aussehen?
Ideen
Was jede Initiative auf lokaler Ebene tun kann:
Die Nationalratsversammlung der Schweiz hat am 09.12.20 die erste Gedenkminute für Covid-Opfer abgehalten. Ihr Vorsitzender Andres Aebi sagte in seiner Rede, eine private Initiative mit einer Kerze für jedes Covid-Opfer auf einem öffentlichen Platz habe ihn am Vortag tief beeindruckt. Wörtlich sagte er: „Das Parlament macht seine Arbeit. Es befasst sich seit Monaten mit den Folgen der Covid-Krise und wie diese … abgefedert werden kann. Jedoch haben wir es dabei versäumt, der Todesopfer zu gedenken und den trauenden Hinterbliebenen unser Mitgefühl auszudrücken.“ https://www.tagblatt.ch/schweiz/schweigen-ich-bitte-sie-aufzustehen-vereinigte-bundesversammlung-gedenkt-der-verstorbenen-covid-opfer-ld.2073729
Solche privaten Initiativen könnten wir auch in Deutschland organisieren. Eine Kerze für jedes Covid-Opfer auf einem öffentlichen Platz – für NRW wären das Stand 11.12.20 insgesamt 4.226 Kerzen. Jede Hospizinitiative, jedes Trauerzentrum kann das vor Ort ins eigene Netzwerk einbringen und durchführen.
Was ich tun werde:
Für die Begleitung und Beratung von Covid-Hinterbliebenen, aber auch all der Trauernden, die nach anderen Todesursachen unter Kontakteinschränkungen Abschied nehmen und trauern, braucht es gut informierte Trauerbegleiterinnen. Im Februar werde ich eine erste Online-Weiterbildung für erfahrene TrauerberaterInnen anbieten, um die besonderen Umstände der Trauer in Pandemie-Zeiten zu betrachten, die erschwerenden Faktoren zu identifizieren und angemessene Methoden zu diskutieren. Infos dazu gibt es im nächsten Blogbeitrag.
Was wir nur alle zusammen tun können:
Langfristig brauchen wir mehr Lobby für Trauernde und für eine selbstverständliche Erinnerungskultur. Verbände, Institutionen und Einzelpersonen, die im Bereich Trauer tätig sind, sollten sich mehr als bisher zusammensetzen und eine solche Lobby, einen Pool an Expertise und konkreter Hilfestellung für Trauernde aufbauen.
Was sind eure Ideen? Was habt ihr schon ins Leben gerufen? Nutzt die Kommentarfunktion oder schreibt mir an info@chrispaul.de
1 Comment
Danke für den Text.
In Deutschland ist die Erinnerungskultur immer problematisch. Es ist nicht üblich von Verstorbenen zu sprechen. Dazu kommt :Corona Tote haben ja auch wenig Lobby, weil es ja gleich die auf den Plan ruft, die sagen, dass es Corona nicht gibt…..