Trauer und Corona, Trauerfacette Überleben
11. Dezember 2020Gastbeitrag von Dr. Barbara Munske-Creswell
Warum brauchen wir diese Nüchternheit?
Vor vier Monaten bin ich aus England nach Berlin zurückgekehrt, meiner Geburtsstadt. Ein Umzug in einer Pandemie ist nicht ideal. Wenn ein internationaler Umzug in guten Zeiten schon anstrengend ist, wird er durch eine Pandemie nicht leichter.
Innen und Außen
Beim Überqueren der Grenzen auf den Kontinent bekam ich das Gefühl, dass ich in eine andere Zeit fahre, allerdings anders als ich erwartet hatte, denn der unterschiedliche Umgang mit Corona war auffallend. Nicht nur, dass sich “Lockdown” im Wesentlichen auf das Aussen konzentrierte – geschlossene Schulen, Restaurants, Museen etc. – während im Inneren Abendessen, Kaffee und Kuchen und Zusammen Sein stattfand – (etwas, was in England seit März 20 verboten war und mich daher verwirrte). Nein, noch stärker fiel mir der Umgang mit Tod und Trauer auf. In England liefen im TV Abendprogramm zur Hauptsendezeit Trailer, die eine Intensivbettenstation zeigt, erschöpfte Ärztinnen und schwer atmende Patienten mit der Bitte, sich an die Regeln zu halten und damit Leben zu retten – im deutschen TV kommentierte eine Statistikerin die aktuellen Todesfälle. Hier entstehen keine Bilder und damit auch keine Emotionen.
Anklagen statt Klage
So entstand in mir der Eindruck, dass Emotionen im Zusammenhang mit Corona unerwünscht sind. In meinem Umfeld gab es die Klagen, warum Corona-Tote mehr Beachtung finden als Krebs-Tote – gibt es hier eine Konkurrenz der Toten, fragte ich mich? In der Presse lese ich nur sehr vereinzelt Geschichten über die Angehörigen, wie sie mit dem Verlust umgehen, es gibt kaum Geschichten über die Überlebenden oder Long Covid.
Haltung einnehmen
Das Fehlen der Emotion bei Tod und Trauer hat vielleicht Geschichte in Deutschland. Vielleicht schürt es an alte Ängste, sich verletzbar zu zeigen, die Toten des Zweiten Weltkrieges nicht betrauern zu dürfen, weil “man” auf der falschen Seite stand. Vielleicht nehmen wir immer noch die Haltung ein, Trauern ist privat, das gehört nicht in die Öffentlichkeit, das macht jeder mit sich alleine aus. Nur in diesem Fall ist der Tod nicht nur privat. Er ist noch nicht einmal nur national. Er ist international. Wo sind die Hinterbliebenen dieser Toten? Wer schreibt ihre Geschichten auf? Was werden wir als Gesellschaft erinnern? Was hindert uns daran, uns mit anderen Ländern und deren Erinnerungsritualen zu Corona-Toten zu verbinden? Warum fallen uns Rituale und Zeremonien so schwer? Warum brauchen wir unbedingt diese Nüchternheit?
Klammheimliche Trauer
Am 23. März gab es in Großbritannien (dem ersten Jahrestag des Lockdowns) eine landesweite Schweigeminute. Um 11.30 GMT wurde das Leben, das sowieso recht still geworden war, noch etwas stiller. Eine zwei tägige, kostenfreie Online Konferenz “Good Grief” begann einige Tage später. Ein sogenannter “grief channel” wurde für 24 Monate eingerichtet und kann weiterhin angesehen werden. www.goodgrieffest.com Heute, am 18. April, lese ich in der Zeitung von der Gedenkveranstaltung in Berlin. Hatte ich die Ankündigungen verpasst? Ich versuche Übertragung und Uhrzeit herauszufinden, muss recherchieren – offensichtlich ist es nicht. Man macht eine nationale Gedenkveranstaltung und sagt dem Volk erst kurz vorher Bescheid? Klammheimlich. Klammheimliche Trauer. Ich lese viel Kritik zu dieser Veranstaltung, sie sei unnötig, unangemessen. Und immer wieder das Einfordern des Trauerns um die anderen Toten, die an anderen Krankheiten gestorben sind. Gibt es in diesem Land, das mit unzähligen Gedenkorten ihrer Toten gedenkt, die Furcht bestimmte Tote zu vergessen? Woher kommt diese Furcht? Es muss allen gedacht werden oder gar nicht.
Es wird Zeit, das Schweigen abzulegen
Alle sind im Tod gleich. Vielleicht. Oder machen wir es uns damit auch leichter über die Trauer hinwegzugehen? In der Trauerfeier in Berlin berühren die Berichte der Trauernden. Man ahnt, was der Verlust für jeden Einzelnen bedeutet. Und ich denke an meinen Vater und meine Mutter, ihre Gewalterfahrungen des Krieges, ich denke an das Schweigen, das sich damals wie ein schwerer Mantel über das Land zog. Vielleicht haben wir ihn nie so richtig abgelegt. Dann wäre es mal langsam Zeit.