Trauer und Corona, Trauerfacette Überleben
11. Dezember 2020Trauer und Corona, Trauerfacette Wirklichkeit
In meinem Blog werde ich in den kommenden Wochen das individuelle und kollektive Trauern unter Corona-Bedingungen untersuchen. Das Trauerkaleidoskop ist dabei mein roter Faden. Ich werde jeweils einen Abschnitt über die individuellen Trauerwege schreiben, die durch Kontakteinschränkungen massiv behindert werden. In einem zweiten Abschnitt wage ich eine Einordnung der kollektiven Prozesse auf dem Hintergrund des Trauerkaleidoskops.
Trauerkaleidoskop
Im Trauerkaleidoskop gibt es sechs Erlebensbereiche, die wie in einem Kaleidoskop stets alle enthalten sind. Sie bilden – wie im Kaleidoskop – bei jeder Bewegung neue Strukturen miteinander, ergänzen oder behindern sich gegenseitig. Es gibt keine festgelegt Reihenfolge des Abarbeitens einzelner Faktoren, die dann nicht wieder auftauchen. Im Gegenteil, die einzelnen Erlebnisbereiche oder Trauerfacetten sind über Jahre hinweg immer wieder und immer wieder neu Thema für die betroffenen, das ist der natürliche Lauf des Prozesses und kein Zeichen von „Steckenbleiben“. Wenn ich heute mit der Facette Wirklichkeit beginne, dann weil sie mir in Berichten von Trauernden zur Zeit so besonders schmerzhaft erscheint.
Individuelle Trauer unter Corona-Bedingungen
Mittlerweile mehr als 10.000 Menschen sind in Deutschland bereits an Covid 19 gestorben. Aber wir haben mit einer viel größeren Zahl an betroffenen zu tun: mehrere Hunderttausend Menschen sterben in diesem Jahr an einer Vielzahl von Erkrankungen, während Kontaktbeschränkungen gelten. Diese Kontaktbeschränkungen schränken Besuche selbst in der Sterbestunde ein und erschweren Abschiede oder machen sie sogar unmöglich machen. Das bringt auch Behinderungen und Einschränkungen im Erleben und Durchleben zentraler Traueranliegen mit sich.
Wirklichkeit und Phantasie
Die Trauerfacette Wirklichkeit eines Sterbens ist unter Corona-Bedingungen für Trauernde buchstäblich schwerer zu begreifen. Fast alles, was die Hospiz- und Trauerbewegung an Möglichkeiten eines bewussten und direkten Abschiednehmens ermöglicht hat, ist plötzlich verboten. Trauernde Familienmitglieder und Freund*innen bleiben mit Leerstellen zurück, die sie mit Phantasiebildern füllen, um das notwendige innere Bild von dem „wirklichen“ Tod zu bekommen. Aus der Arbeit mit Hinterbliebenen nach Unfällen oder Suiziden kenne ich diesen Mechanismus gut – alles, was wir nicht direkt bezeugen können, fordert unseren Verstand heraus, erdachte Bilder als Lückenfüller einzustellen. Leider sind diese Lückenfüller viel eher dramatisch als beruhigend. So entstehen innere Narrative vom einsamen, vorwurfsvollen Sterben der Menschen, denen man so gern beigestanden hätte.
Folgen für die Trauerbegleitung
– Zu Beginn steht wie immer: Aufmerksames Zuhören, um die vorhandenen Fakten aber auch die entstandenen Narrative zu verstehen.
– Behutsames Spiegeln der damit verbundenen Emotionen.
– Falls Fakten fehlen: Spurensuche unterstützen, Informationsquellen zur Verfügung stellen (z.B. in vielen Krankenhäusern sind Palliativteams und die Krankenhausseelsorge zur menschlichen Begleitung der Sterbenden da gewesen).
– Frühere Narrative mit dem Geschehen in Verbindung bringen (z.B. ihr Sohn hat gewusst, wie sehr Sie ihn lieben? Ihre Mutter war nicht nachtragend, haben Sie mir erzählt.)
– Die „Wirklichkeit“ der eigenen Bemühungen und des inneren Verbundenheit im Sterbeprozess bewusst machen – deren Wert hervorheben, auch wenn es nicht zu physischen Kontakten kommen konnte (z.B. Sie haben von der Kerze erzählt, die Tag und Nacht bei Ihnen gebrannt hat für Ihre Oma. Sie haben von der Auseinandersetzung mit der Stationsleitung erzählt.)
– Auch hier wieder auf die emotionale Reaktion fokussieren, Traurigkeit, Ohnmacht, Sehnsucht bestätigen und „fließen lassen“.
– Ressourcenorientierte Frage stellen: wie haben Sie die Wartezeit überstanden? Woran haben Sie sich innerlich festgehalten? Hat es Beistand gegeben durch Menschen oder eine spirituelle Quelle?
– Die spirituelle Seite eines Sterbens ansprechen: Haben Sie eine Vorstellung davon, das im Sterben nicht nur etwas mit dem Körper passiert? Falls ja, wie sieht die Vorstellung aus? Können Sie das auf das Sterben dieses Menschen, um den Sie gerade trauern, übertragen?
– Die Abschieds- oder Bestattungsfeier ansprechen und würdigen – was war möglich, wie wurde gestaltet?
– Zusätzliche bzw. alternative Rituale ins Spiel bringen und erarbeiten (Hinweis zu Ritualen im Rahmen der Bestattung unter Kontaktbeschränkungen finden Sie hier https://www.chrispaul.de/kontact2020/
Kollektive Trauer
Was wir alle real erleben, sind Einschränkungen und dadurch ausgelöste Verluste. Eine Freundin schrieb mir, wie sehr sie sich nach „echten Begegnungen und Umarmungen“ sehnt. Eine andere leidet darunter, dass das große Hochzeitsfest ihrer Tochter auf ein Minimum geschrumpft ist. Die Frau eines Kollegen, die eine durchaus erfolgreiche Musikerin ist, lebt jetzt von Hartz 4. Es tut gut, die „Wirklichkeit“ dieser Verluste zu untersuchen. Was davon ist vorübergehend, was wird end-gültig sein? Für vorübergehende Einschränkungen heißt es: nun ist die Facette „Überleben“ dran, zusammen mit der Facette „Anpassen“. Für end-gültige Verluste gilt es, Abschiede und innere wie äußere Vermächtnisse zu gestalten.
Differenzierung statt Verallgemeinerung
In unserer Straße macht ein kleiner Modeladen zu – die Coronakrise hat einen bereits angeschlagenen Betrieb zusätzlich geschwächt. Jeden Tag sehe ich, wie die Auslagen mit im Preis heruntergesetzten Kleidern, Möbelstücken und Dekorationsartikeln leerer werden. Die Besitzerin sitzt mittendrin, verkauft, plaudert mit den letzten Kund*innen und sitzt manchmal einfach nur in dem leerer werden Laden. Sie nimmt Abschied, Stück für Stück. Verabschiedet sie sich von diesem einen Geschäft oder der grundsätzlichen Identität als Geschäftsfrau. Geht hier ein Traum zu Ende oder eine Einkommensquelle? Verliert sie auch eine Belastung und eine dauernde Stressquelle? Differenzierungen und ein genaues Untersuchen, was verloren wird, helfen bei der Bearbeitung der anderen Trauerfacetten. Gefühle können von Erleichterung bis Verzweiflung variieren. Die Suche, nach dem was bleibt, von den Erfahrungen und Begegnungen beeinflusst auch die Sinngebung. Entsteht ein „nie wieder“ oder eher „auf ein Neues“? Stolz auf das Erreichte und sogar auf den Entschluss, einen Schlussstrich zu ziehen, wirken anders auf das Weiterleben als ein tiefes Versagensgefühl. Verallgemeinerungen unterstützen negative Deutungen, Differenzierungen in der „Wirklichkeit des Verlusts“ ermöglichen eine ganzheitlichen Blick und unterstützen die Neuorientierung.
Verlustreaktion oder Sorge um die Zukunft
Die Wirklichkeit unserer Verluste anzusehen und zu verstehen, ist die Voraussetzung für Trauer. Ohne Verlust keine Trauerreaktion. Sorge und Angst sind ja an sich keine Verluste – es hilft zu prüfen, worauf wir mit Angst und Sorge reagieren. Das sind vielleicht Verluste, vielleicht aber auch Erinnerungen oder sogar Zukunftsprognosen. Wenn es Verluste sind, die uns müde, traurig, wütend oder sehnsuchtsvoll mache, dann haben wir Handlungsmöglichkeiten in der Hand: Abschied gestalten, Erinnerungen sichern, Vermächtnisse überprüfen, Gefühle ausleben und teilen.
Mit diesen Trauerfacetten beschäftige ich mich in den kommenden Blogbeiträgen.
Ihre Meinung interessiert mich!
Wenn Sie mir ihre Gedanken zur Trauerfacette Wirklichkeit in Coronazeiten schreiben möchten – nutzen Sie einfach die Kommentarfunktion. Ich freue mich, von Ihren Erlebnissen zu hören und in den Austausch zu kommen.